Kritik Ein Tag mit Herrn Jules 04.11.2009

Schwäbisches Tagblatt

Die letzte Partie

Ein Abend mit dem Duo Mirabelle, ein Tag mit Herrn Jules

Peter Ertle

Tübingen. Gibt es ein heimeligeres Geräusch als das Gurgeln und Blubbern einer Kaffeemaschine? Lautverstärkt in Szene gesetzt kann es auch ein bisschen unheimlich klingen. Unterseewelten. Die Atemzüge eines Tauchers. Vielleicht ist es auch die abstrakt-klangliche Umsetzung der letzten Lebenszüge eines alten Mannes. Irgendwann hört das Gurgeln auf, der Kaffee ist durchgelaufen. Der Mann ist tot.

Der Mann heißt Jules, das Stück, jüngst im Vorstadttheater zu sehen, heißt „Ein Tag mit Herrn Jules“, eine Inszenierung des „Duo Mirabelle“ nach einer Vorlage der belgischen Autorin Diane Broeckhoven. Es gilt als das erste Erwachsenenbuch der Kinderbuchautorin. In dieser Inszenierung ist es ein Stück für Menschen jeglichen Alters — die ganz Kleinen ausgenommen.

Wie meist bei diesem Thema ist es auch hier mehr ein Stück übers Leben als über den Tod. Vom Tod wissen wir ja nichts, wir kennen nur seine dem Leben zugewandte Rückseite, er ist die Leerstelle. Und so steht auf der Bühne auch nur der dem Zuschauer abgewandte Sessel von Herrn Jules, der leer bleibt, freilich nicht in unserer Phantasie. Und nicht in der Phantasie von Alice, Jules‘ Ehefrau. Die seinen Tod bemerkt, ihn aber einen Tag lang negiert und weiterhin mit ihrem Mann spricht. Richtig plemplem ist Alice aber sicher nicht. Sie braucht Zeit. Zum Abschiednehmen. Und sie hat ihrem Mann in diesem selbstgeschaffenen Kunstraum zwischen Leben und Tod ja noch so viel zu sagen, nicht nur Schönes, es war nicht immer die pure Harmonie zwischen beiden. Das Reizvolle ist, dass hier zwischen Generalabrechnung und Liebeserklärung nicht zu unterscheiden ist, und oft bewegt es sich auch jenseits von beidem, dazwischen elementarer, auch banaler: Wer holt jetzt die Zeitung, wer kocht von nun an Kaffee? Ein zig Jahre währender Lebenszustand hört auf und passiert noch einmal Revue. Dabei wird manches aus den Unterseewelten dieser Beziehung hervorgeholt.

Mirjam Orlowsky wirkt wie eine alte-Frau-Figur in einer lebensgroßen Puppenstube, dadurch wird der Realismus etwas gedimmt. Völlig realistisch weil vollständig verinnerlicht: Die langsamen, mühsamen Bewegungen, die Körperlichkeit einer alten Frau. Apropos Bewegung: Zwischendrin brechen Tanzbewegungsstudien die Szenerie auf. Und dann kommt Nachbarjunge David, der um diese Zeit gewöhnlich eine Schachpartie mit Herrn Jules spielt. Isabelle Guidi spielt den Autisten mit einer psychomotorischen Mimikry, die ihresgleichen sucht, vor allem weil sie zwei Dinge vereint: Die Darstellung eines Krankheitsbilds und kleine, darauf aufgebaute Clownsnummern (zwischen Autist und Artist liegt genau genommen auch nur ein Buchstabe), die — eine hohe Kunst — ihre Figur niemals lächerlich machen, sondern ihr vielmehr etwas Pfiffiges, Liebenswürdiges verleihen.

„Herr Jules ist tot“ sagt David sofort und erweist ihm doch den letzten Dienst, eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Von nun an ist er in ihrem Bund der Dritte. Eine außerordentlich poetische Inszenierung, heimelig und unheimlich wie die Kaffeemaschine, wie das Leben.