Ein Tag mit Herrn Jules, 14.11.2011

Fluchtreflex ausgelöst

Von unserer Mitarbeiterin Cordula Dürr

Neuenstadt – Herr Jules ist tot. Er starb alt, aber überraschend, und seine Frau Alice versucht wenigstens für einen Tag noch das Geschehene zu ignorieren. „Ein Tag mit Herrn Jules“ heißt das 2006 erschienene Buch von Diane Broeckhoven, nach dem das „Duo Mirabelle“ aus Tübingen ein Bühnenstück inszeniert hat, das anrührend und poetisch zugleich den Tod ins Leben integriert und ihm so jegliche Dramatik nimmt. Auf Initiative des Hospizdienstes war das Stück im Museum im Schafstall zu sehen.

Hinausgezögert Die Kaffeemaschine, die Herr Jules noch in Gang gesetzt hatte, blubbert vor sich hin, während seine Frau Alice die Zeit zwischen Erwachen und Aufstehen mit einer Mischung aus Tanz und Yoga choreographisch zelebriert. Die Erkenntnis, dass ihr Mann leblos im Sessel sitzt, macht Alice unsicher, sie droht das feste Gefüge ihrer Gewohnheiten zu sprengen. Sie findet es von ihm geradezu „unverschämt, sich ohne Vorankündigung aus dem Leben zu stehlen“. Und nach der Devise „Solange niemand weiß, dass du tot bist, lebst du für mich noch“, versucht sie den Abschied zu verzögern.

Leichenbestatter, Notar und Formalitäten, selbst der Anruf beim Sohn − das alles hat Zeit. Allein David, der autistische Nachbarjunge, der wie jeden Tag zum Schachspiel mit Herrn Jules erscheint, wird zum stillen Verbündeten. Er registriert nüchtern „Herr Jules ist tot“, flüchtet sich aber sofort wieder in die Geborgenheit vertrauter Rituale. Schach spielt er alleine, am Ende verkündet er „Herr Jules hat gewonnen“. So wie es immer war, soll es bleiben. Und mit seiner Aussage „Der Schnee bleibt draußen, die Wärme ist drinnen“ trifft er genau den Punkt, um den das Geschehen kreist.

Träume Der Autist braucht den geschützten Raum und die Routine ebenso wie Alice, auch wenn die schon zaghafte Versuche unternimmt, sich selbst zu finden, Wein trinkt und von einem Krabbendinner träumt. Wichtig scheint ihr in diesem Moment auch, all das auszusprechen, das zuvor nie Gesprächsthema war oder sein durfte. Was zunächst aber wie eine Abrechnung anmutet, wird schnell zu einer bittersüßen Liebeserklärung. Sie erinnert sich an die Flitterwochen in Paris mit einer Fehlgeburt, von der nie jemand erfahren durfte und nimmt gleichzeitig im Raum den Geruch nach Tod wahr, der mit Eau de Cologne übersprüht wird. Ordnung muss sein, sie ist wie ein Geländer.

Betroffenheit Großartig wie die beiden Schauspielerinnen Mirjam Orlowsky als Alice und Isabelle Guidi als David diese dichte Handlung darstellen. Guidi gibt den autistischen Jungen mit unglaublicher Professionalität. Ihre stereotypen repetitiven Bewegungen, sorgen für Betroffenheit aber auch für witzige Momente, während Orlowsky gleichzeitig in sprachlich wunderbaren Monologen und mit beeindruckender Gestik die Hinterbliebene spielt.

Das Bühnenbild ist reduziert auf eine Küchensitzgruppe, ein Telefontischchen und einen Sessel, der nur von hinten zu sehen ist und auf dem, so wird es dem Publikum suggeriert, der tote Herr Jules sitzt. Ihn zu verabschieden braucht Zeit − doch wer nimmt sich die heute noch? Diese Frage gab Hilde Gäckle, Vorsitzende des Hospizdienstes, den sichtlich beeindruckten Besuchern mit auf den Nachhauseweg

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